Ein ungleiches Paar. Eine schicksalhafte Mitfahrgelegenheit.
Livius Reimer macht sich auf den Weg von München nach Berlin, um seine Ehe zu retten. Als sein Flug gestrichen wird, muss er sich den einzig noch verfügbaren Mietwagen mit einer jungen Frau teilen, um die er sonst einen großen Bogen gemacht hätte. Zu schräg, zu laut, zu ungewöhnlich - mit ihrer unkonventionellen Sicht auf die Welt überfordert Lea von Armin Livius von der ersten Sekunde an. Bereits kurz nach der Abfahrt lässt Livius sich auf ein ungewöhnliches Gedankenexperiment von Lea ein – und weiß nicht, dass damit nicht nur ihr Roadtrip einen völlig neuen Verlauf nimmt, sondern sein ganzes Leben!
Der erste letzte Tag
BestsellerLeseprobe
Jetzt reinlesen
Nehmen wir einmal an, die Welt wird nicht gerade von einer Pandemie gebeutelt, und Sie sitzen in einem Flugzeug, zehn Reihen hinter der Tragfläche, obwohl Sie extra um einen Platz ganz vorne gebeten haben (weil dort die Luft besser ist und es weniger wackelt). Immerhin hat Ihnen die Dame vom Check-in mit dem »Der nächste Trottel, bitte«-Blick den Fensterwunsch erfüllt, nachdem sie eine halbe Ewigkeit auf der Computertastatur rumtippte und Sie schon befürchteten, die Frau würde Ihnen am Ende nicht die Bordkarten, sondern den Leasingvertrag für den Airbus aushändigen … Nehmen wir also einmal an, Sie säßen jetzt in Reihe 33A, die Knie in den Vordersitz gedrückt, den rechten Arm vor der Brust eingeknickt, als wollten Sie beim Tennis eine Rückhand schlagen. Denn die Lehne neben Ihnen ist von einem XXL-Unterarm belegt, an dem ein Hundertzwanzig-Kilo-Mann mit Halbglatze hängt. Ihr Handy ist bereits ausgeschaltet, und Sie sind vorschriftsmäßig angeschnallt, obwohl der Flieger seine Parkposition noch nicht einmal verlassen hat: Tja, ich denke, Sie hätten gewiss einen schönen Blick auf den Kerl mit der Warnweste, der gerade auf dem Rollfeld bei dichtem Schneefall den Inhalt eines aufgeplatzten Koffers aufs Förderband kippt.
Ich zumindest sah genau dieses, und so erklärt sich auch mein Ausruf (»Scheiße«), der mir einen misstrauischen Blick meines Sitznachbarn einbrachte. Der aufgeplatzte Koffer war eindeutig meiner, wie ich unschwer an dem ockergrünen Bärchenpulli erkennen konnte, der gerade im Magen des Flugzeugs verschwand.
Meine Mutter hatte mir den Pullover zu Weihnachten geschenkt. Nein, sie war nicht farbenblind, und noch weniger wollte sie mir mit besonders hässlichen Weihnachtsgeschenken vor Augen führen, dass sie bei meiner Geburt lieber gestorben wäre, als mich die folgenden zweiunddreißig Jahre ihren Sohn zu nennen. Nein, Mama liebte mich. Sehr sogar. Nur hatte sie einen schrecklichen Geschmack, zumindest, wenn es um Mode ging. Einmal hatte ich die Probe aufs Exempel gemacht und bei einem Familientreffen mein Sakko in die Hose gesteckt, und sie hatte mir lediglich mit den Worten »mein hübscher Livius« über den Kopf gestreichelt; ein Kompliment, das ich, wie Sie spätestens jetzt verstehen werden, seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr allzu ernst nehme. Genauer gesagt seit dem Tag, an dem sie mir schwor, niemand in der Klasse würde über meinen Mittelscheitel lachen, und es wäre ganz normal, wenn bei Sandalen vorne die Socken wie tote Hundezungen heraushängen.
Dass der Bärchenpulli jetzt ohne seine schützende Samsonite-Hülle vermutlich auf Nimmerwiedersehen im Bauch des Flugzeugs verschwand, war mir also gar nicht mal so unrecht. Was ich vom Verlust meiner übrigen Habseligkeiten allerdings nicht behaupten konnte: meiner weißen Oberhemden, der kaum benutzten Joggingschuhe, eines Ladekabels, des neuen Stephen King (1056 Seiten, die bald das
11
Doppelte wiegen würden, wenn das Förderband noch länger im Schneeregen pausierte) und, last but not least, meines Fünfhundert-Euro-Anzugs. Den hatte ich mir nicht nur für meinen Termin bei dem Verlag gekauft, der mein erstes Buch unter Vertrag nehmen wollte, sondern auch für die »Wollen wir uns noch eine letzte Chance geben?«-Verabredung bei der Paarberatung mit meiner Frau Yvonne, die mich für einen Kollegen verlassen hatte. Doch wie es aussah, hatte der sich ausgerechnet kurz vor Weihnachten aus dem Staub gemacht, was vermutlich der Anlass ihres tränenerstickten Anrufs gewesen war, an dessen Ende wir verabredet hatten, es nach Weihnachten ein zweites Mal mit einer Eheberatung zu probieren. Unser erster Versuch hatte mit ihrem Auszug geendet.
Dass ich morgen bei unserem ersten Wiedersehen nach einem guten Vierteljahr ordentlich gekleidet sein würde, schien mir im Moment eher unwahrscheinlich. Meine Anzughose blähte sich gerade wie der Windschlauch einer Wetterstation. Mein innerer Kompass hingegen drehte von »Das darf doch nicht wahr sein« Richtung »Verdammt, ich muss was tun«.
Ich löste den Gurt und stemmte mich andeutungsweise aus dem Sitz. »Entschuldigung, dürfte ich mal bitte?«, fragte ich meinen Nebenmann, der gerade versuchte, sich in eine BILD-Zeitung zu wickeln. Vielleicht wollte er sie auch lesen, der Unterschied war nicht auszumachen.
»Hä?«
»Ich muss leider aufstehen.«
»Toiletten sind nicht.« Er schüttelte den Kopf und gab mir damit zweierlei zu verstehen: Erstens würde er sich vermutlich nie für meinen Volkshochschulkurs »Kreatives Schreiben« anmelden, den ich in meiner Freizeit gab. Und zweitens kam er wie ich aus Berlin. Es mochte irgendwo Städte geben, in denen die Einwohner noch unhöflicher zu Fremden waren, aber bislang hatte das Hubble-Teleskop sie noch nicht entdeckt.
»Erst nachem Start«, ergänzte er, und sein kotelettengerahmter Quadratkopf verschwand wieder hinter der Zeitungstapete.
»Nein, nein. Ich muss nicht aufs Klo«, wies ich ihn höflich auf das Missverständnis hin.
»Schön«, brummte er.
»Nein, ich meine, Sie verstehen nicht … ähhm …« Ich tippte von meiner Seite der Zeitungswand aus gegen eine Schlagzeile, die man selbst als Kurzsichtiger noch vom Weltall aus hätte entziffern können, und rief ein weiteres Highlight an Eloquenz meines Nachbarn hervor.
»Hä?«
»Es gibt Probleme mit meinem Koffer da unten.« Ich deutete auf die Szenerie auf dem Rollfeld, die sich zu meinem Entsetzen jäh verändert hatte. Kein Gepäckwagen mehr. Das Förderband fuhr zurück. Der Beladevorgang war abgeschlossen, der Westenmann auf dem Rückzug ins Warme.
»Wasislos?« Das Aushängeschild des Berliner Fremdenverkehrsamtes hatte sich tatsächlich dazu bequemt, meinem ungläubigen Blick durch das Fenster zu folgen. Leider verlagerte er dafür seinen Schwerpunkt eindeutig in meinen Strafraum.
»Was quatschen Sie denn da?«, fragte er, die Hälfte seines Körpers auf meinem geparkt. Sein Atem hüllte meinen Kopf in eine Atmosphäre aus Mett und Kaffee.
»Nicht mehr da«, stöhnte ich.
Der Mann wandte sich zu mir. Ich blieb starr, hielt die Luft an und presste die Lippen zusammen. Wir waren uns so nah, eine unbeabsichtigte Bewegung und ich würde ihn küssen.
»Hast du Hallus?«, fragte er mich, und ich hätte gerne geglaubt, dass damit das Eis zwischen uns gebrochen war, er aufstehen und mich vorbeilassen würde, doch ich hatte meine Zweifel. Und der Umstand, dass er wieder sein Zeitungszelt zwischen uns aufspannte, sprach auch nicht gerade dafür.
Da ich mit mitteleuropäischen Kommunikationsgepflogenheiten nicht weiterkam, borgte ich mir die Worte des Poliers, der mich während meines Studentenjobs auf dem Bau folgendermaßen subtil zur Eile gemahnt hatte: »Ich ramm dir gleich einen Schraubenzieher in den Arsch, wenn du nich sofort hinne machst.«
Der Beschimpfte sah mich genervt an, aber immerhin drehte er sich zu der älteren Dame neben ihm und gab ihr höflich zu verstehen, dass sie zuerst aufstehen müsse: »Schieb mal rüber!«, sagte er und gab ihr kaum Zeit, sich abzuschnallen und ihm auszuweichen.
Endlich befreit, lief ich den Gang Richtung Cockpit, verfolgt von misstrauischen Blicken, die meinen Oberkörper nach Sprengstoffgürteln absuchten.
In Reihe zwölf kam ich nicht mehr weiter und blieb vor dem Rücken einer gestressten Stewardess stehen, die mit jemandem sprach, der offenbar in die entgegengesetzte Richtung wollte. Zwischen »Damit kommen Sie …« und »… hier nicht weiter« tippte ich ihr auf die Schulter. Sie drehte sich kurz, um sich mit zerknitterter Miene ein Bild davon zu machen, welcher Abschaum von Passagier es wagte, sie zu stören, dann sagte sie »Augenblick« und riss den Kopf wieder nach vorne.
Oje, dachte ich leicht besorgt. Ich leide nun wirklich nicht unter Flugangst, aber irgendwie fühlte ich mich nun nicht mehr ganz so sicher. Immerhin war diese Flugbegleiterin im Ernstfall dafür zuständig, dass die qualmende Kabine in weniger als dreißig Sekunden geräumt sein musste, und dabei sah sie jetzt schon so gestresst aus, als würde sie geradezu auf einen außerplanmäßigen Druckabfall hoffen, weil sie selbst hin und wieder einen Schluck aus der Atemmaske vertragen könnte.
»Bitte, es ist dringend.« Natürlich war es ein Fehler zu glauben, mit höflicher Kommunikation etwas erreichen zu können. Wie zuvor bei meinem Sitznachbarn scheiterte ich auch bei der Stewardess grandios. Sie hob nur abwehrend die Hand, ohne sich zu mir umzudrehen. Kamen denn hier alle aus Berlin?
»Das müssen Sie aufgeben«, sagte sie zu der verdeckten Gestalt vor ihr.
»Unmöglich«, hörte ich eine junge Frauenstimme lautstark protestieren. »Da ist etwas sehr Wertvolles und Zerbrechliches drin.«
Die Stewardess zeigte sich wenig beeindruckt. »Keine Sorge«, sagte sie mit der Glaubwürdigkeit eines Hütchenspielers, »unser Frachtraum ist sicher, da ist Ihr Gepäck in guten Händen.«
Ah, ja.
Angesichts der Tatsache, dass ich gerade mit eigenen Augen gesehen hatte, wie sich mein Koffer aufs Förderband übergab, hielt ich diese Aussage für leicht korrekturbedürftig und versuchte mich mit einem energischen »Ähemm« konstruktiv in die Unterhaltung einzubringen. »Ich hätte da auch ein Problem mit meinem Gepäck.«
Hmm. Ignoriert zu werden fühlte sich aufregender an. Aber immerhin drehte sich die Stewardess etwas zur Seite und öffnete das Fach über den Reihen zwölf bis sechzehn, wohl um zu beweisen, dass hier alles belegt war. Durch diese Positionsveränderung hatte ich erstmals freie Sicht auf ihre Gesprächspartnerin.
Ach so.
Ich brauchte nur einen Blick, und mir war alles klar.
Vor mir stand ein Klischee – eine »Tofu-Terroristin«, wie mein Freund Eddy sie nennen würde, wenn die junge Frau in seiner Neuköllner Eckkneipe aufkreuzen würde, was sie vermutlich nie tat, weil Eddy keine glutenfreie Sojamilch oder – Zitat Eddy – »anderen Ökomist« auf der Karte hatte. Vermutlich würde er sie gar nicht erst reinlassen oder sich zumindest den Ausweis zeigen lassen, denn ihr Alter war wegen ihrer puppenhaften, kreideblassen Haut nur schwer zu schätzen. Mindestens sechzehn, höchstens dreißig.
Die junge Frau hatte zwei Drittel ihrer dicken, braunen und ansonsten schulterlang herunterhängenden Locken mit einem Haargummi hochgebunden, und das mit einer professionellen Nachlässigkeit, die wohl spontane Natürlichkeit ausdrücken sollte. In Wahrheit hatte sie heute früh sicher stundenlang vor dem Spiegel gestanden, damit der strubbelige Büschelzopf, der wie eine aufgeplatzte Palme aussah, auch wirklich fast mittig vom Kopf abstand.
Das Gesicht war schmal, als besorgter Vater hätte ich es »eingefallen« genannt, und sie trug die obligatorischen Insignien einer Zugezogenen, die ihr ganzes Teenagerleben lang davon geträumt hat, mit Papas Kohle im Prenzlauer Berg einen auf hippes Mädel zu machen: In-ear-Kopfhörer in den durchlöcherten Ohrmuscheln, kajalumrandete Rußaugen, Schmollmund. Nur der obligatorische Nasenring und das Augenbrauenpiercing fehlten.
»Und was jetzt?«