Atmosphärische Krimi-Spannung aus Schweden

Was geschah wirklich im Feriendorf Gärdsnäset, als das Luciafest ein tödliches Ende nahm?

1987 verbringen die beiden besten Freundinnen Laura und Iben die Winterferien wie jedes Jahr bei Lauras geliebter Tante Hedda in deren Feriendorf Gärdsnäset in Schonen in Süd-Schweden. Doch beim Luciafest geraten die Mädchen wegen eines Jungen in Streit, und am Ende des Abends brennt der Festsaal lichterloh. Laura wird schwer verletzt, Iben stirbt in den Flammen. 30 Jahre lang wird Laura nicht nach Gärdsnäset zurückkehren, ihre Tante wird sie nie wiedersehen.
Als Laura nun die Nachricht erhält, dass Hedda gestorben ist und ihr Gärdsnäset vererbt hat, ist sie geschockt. Muss sie sich nun doch noch den Dämonen der Vergangenheit stellen? Notgedrungen reist Laura nach Schonen, um das halb verfallene Feriendorf zu verkaufen. Doch die Käufer sind merkwürdig aggressiv, und bald mehren sich die Anzeichen, dass Hedda einem dunklen Geheimnis auf der Spur war …

Der dritte Schweden-Krimi von Anders de la Motte nach »Sommernachtstod« und »Spätsommermord« überzeugt erneut mit atmosphärischem Setting, klug gezeichneten Charakteren und einer geschickten Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, Schuld, Lügen und der Suche nach Wahrheit.

Leseprobe

Winterfeuernacht

PROLOG

Sie hatte den See immer geliebt. Fast ein halbes Jahrhundert lang war dieser Platz ihr Zufluchtsort gewesen. Eine Welt, die zwar nicht frei von Sorgen war, wo das Böse aber nie hatte Fuß fassen können. Zumindest hatte sie sich das eingeredet. Jetzt wusste sie es besser.

Sie fröstelte, wie sie da am Rande des Schwimmstegs saß und die Beine aus dem eiskalten Wasser hob. Faltige Haut, krumme Zehen und Krampfadern, die dünne, blaue Spinnen- netze auf ihren Waden bildeten. Wann war es dazu gekommen? Wann hatte sie die Füße einer alten Frau bekommen?

Genau wie mit dem restlichen Älterwerden ließ sich das nicht an einen bestimmten Zeitpunkt knüpfen. Stattdessen handelte es sich um eine schleichende Veränderung, wie wenn das Herbstlaub langsam fiel und man eines Morgens aufwachte und es um den See herum Winter war.

Das Eis bildete bereits einen dicken Kreidekreis am Ufer entlang, und die hohen Bäume, die beinahe bis zum Sauna- schuppen neben dem Steg reichten, erstreckten sich kahl in den Abendhimmel. Die Kolonie Krähen, die mittlerweile die einzigen Gäste des Feriendorfes waren, beobachteten sie von dort oben mit wachsamen dunklen Augen.

Es besteht keine Gefahr, dachte sie. Ich werde nicht baden. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.

Sie zog die Füße ein und wickelte sich das Handtuch fester um den Körper. Die Bewegung brachte den Steg zum Schaukeln, und die rostigen Ketten, mit denen er an Pfeilern befestigt war, rasselten. Die Saunawärme strömte unter dem Handtuch hervor und verwandelte sich in Dampf, als sie auf die kalte Winterluft traf.

Vorsichtig strich sie mit der einen Hand über die grauen, rissigen Planken.

Der Steg hätte schon vor mindestens einem Monat gesäubert, geteert und winterfest gemacht werden müssen, so wie sie es früher getan hatten. Aber genau wie mit so vielen anderen Sachen im Feriendorf hatte sie diesen Kampf schon lange auf- gegeben. Oder vielleicht auch einfach nur die Lust verloren.

Nach dem Herzinfarkt Anfang Herbst, ihrem zweiten und vermutlich vorletzten, wie Doktor Olsson säuerlich bemerkt hatte, verbat er ihr das Winterbaden.

»Dein Herz verträgt keine weiteren Belastungen, Hedda. In keinerlei Hinsicht ...«

Eigentlich sollte sie operiert werden, in ihrem Poststapel im Haus lagen mehrere Aufforderungen, aber sie verabscheute Krankenhäuser genauso sehr wie Ärzte.

Bis vor einigen Wochen hatte sie daher auf die Aufforderungen und die Ermahnungen des Doktors gepfiffen. Ihr Le- ben bestand ohnehin nur darin, mit der Katze auf dem Schoß im Fernsehsessel zu sitzen und sich vom Vormittags-, Nach- mittags- oder Abendgrog in eine andere, glücklichere Zeit versetzen zu lassen. Sich Gesichter, Stimmen, Gelächter ins Gedächtnis zu rufen. Erinnerungen an Sommer und Winter, die vorüber waren. Erinnerungen an die Kinder. Ihre Kinder, so nannte sie sie. Laura, Jack, Peter, Tomas. Und dann Iben. Die arme, arme kleine Iben.

An manchen Winterabenden meinte sie fast, sie dort draußen hören zu können. Autotüren, die zuschlugen, fröhliche Stimmen, Füße, die vor der Haustür den Schnee abstampften. Manchmal sprang sie sogar vom Sessel auf, um sie zu Hause willkommen zu heißen, ihnen zu sagen, wie sehr sie sich nach ihnen gesehnt und sie vermisst hatte.

Aber wenn sie die Haustür öffnete, war der Platz draußen immer menschenleer. Dreißig Jahre Leere. Sehnsucht, Schuld. Warum sollte sie das noch länger hinauszögern? Warum die wenigen Genüsse opfern, die es noch gab, um ein paar Jahre mehr zu leben? Der Doktor konnte zum Teufel gehen. So dachte sie jedenfalls.

Bis zu diesem Morgen vor wenigen Wochen, als ein Wagen draußen auf dem Hof gestanden hatte. Eines der wenigen Male, dass sie sich bereit erklärt hatte, Besuch zu empfangen. Widerwillig war sie nüchtern geblieben, hatte sogar geduscht und saubere Kleider angezogen. Sie hatte sich eingeredet, dass alles schnell geklärt sein würde.

Aber als sich die Autotür öffnete, schien etwas in ihrem Kopf klick zu machen. Es hatte einen Lichtfunken ausgelöst, der so klar war, dass sie sich die Hand vor die Augen schlagen musste.

Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie hätte einen Schlaganfall. Dass sie auf ihrer eigenen Türschwelle tot umfallen würde, bevor sie auch nur ein Wort mit den Besuchern wechseln konnte. Aber nach einer Sekunde war das vorbei gewesen und die Welt zu ihrer bleichen Novembertrübe zurückgekehrt. Sie war mit Begrüßungsphrasen, Namen, dann einem geschäftlichen Vorschlag und Zahlen gefüllt worden, genau wie geplant.

Trotzdem meinte sie während des gesamten Gesprächs, eine schwache Stimme im Hinterkopf wahrzunehmen, die sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Als junge Frau hatte sie sich von dieser Stimme leiten lassen, aber nach dem Lucia- brand, als ihr klar geworden war, dass ihre Intuition sie betrogen hatte, hatte sie nicht mehr hingehört, sie in Alkohol und Selbstmitleid ertränkt. Bis jetzt.

Denn in den Tagen nach dem Besuch war die schwache Stimme lauter geworden. Sie hatte ihr immer energischer er- klärt, dass das Unmögliche möglich geworden war. Dass sie nach all diesen Jahren eine neue Chance bekommen hatte. Die Chance, in die Vergangenheit zurückzukehren. Die Chance, ein paar ihrer Fehler wiedergutzumachen, diejenigen zu schützen, die sie liebte.

Aber sie musste vorsichtig vorgehen – sich vor dem Feuer in Acht nehmen.

Sie schaute auf ihre verkrüppelte linke Hand hinab. Auf das

Narbengewebe, das sich über ihren Handrücken zog, und die zwei Stümpfe, die alles waren, was von ihrem kleinen Finger und ihrem Ringfinger übrig geblieben war. Mit der anderen Hand griff sie nach ihrem Abendjoint und dem Feuerzeug, die sie beide neben sich auf den Steg gelegt hatte. Seit Sommer 1975 oder vielleicht 76 pflanzte sie im Treibhaus hinter dem Werkzeugschuppen ihr eigenes Marihuana an. Eigentlich sollte sie auch darauf verzichten, aber das Gras half ihr, ihre Gedanken zu sammeln. Darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollte.

Laura anrufen, war ihr erster Impuls gewesen. Aber sie hatte es nicht gemacht. Hatte sie vielleicht Angst? Wahrscheinlich. Angst davor, als verrückte Alte abgetan zu werden, noch bevor sie das Unerhörte erklären konnte, das sie entdeckt hatte. Oder vielleicht fürchtete sie etwas noch Schlimmeres: dass Laura einfach auflegen würde. Das wäre allerdings völlig verständlich.

Sie hatte Laura damals im Stich gelassen, sie hatte alle im Stich gelassen. All ihre Kinder.

Sie behielt den süßen Rauch im Mund, bevor sie ihn in den Abendhimmel steigen ließ. Der Mond, der über dem See hinaufkletterte, verwandelte die Wasseroberfläche allmählich in fließendes Silber. Hedda gegenüber, am langen Nordufer, reckte sich der Bergkamm als steiler Schatten empor. Nur eine einsame Lampe durchbrach die kompakte Dunkelheit dort drüben. Wie immer zog dieses Licht Heddas Blick an.

Natürlich hätte sie das Feriendorf verkaufen sollen. Ihr wurde viel Geld geboten, mehr, als sie jemals brauchen würde. Ein kluger Mensch hätte prompt unterschrieben. Er hätte die Krähenkolonie, das Haus und den baufälligen Schwimmsteg verlassen, um seine letzten Jahre an einem behaglicheren Ort zu verbringen. Er hätte sich nicht von einer längst eingeschlafenen Intuition stören lassen und darauf verzichtet, an der Vergangenheit zu rütteln. Ein kluger Mensch.

Ihr Blick wanderte wieder zum nördlichen Ufer. Zu dem einsamen Licht.

Dreißig Jahre, war schon so viel Zeit vergangen? Sie musste Laura anrufen, auch wenn sie Angst davor hatte. Sie musste ihr erklären, was vor sich ging. Ihr sagen, dass sie sich in Acht nehmen sollte. Aber zuerst musste sie sich ihrer Sache ganz sicher sein. Die Intuition durch konkrete Beweise ersetzen. Denn die Wahrheit tat weh. Und außerdem konnte sie gefährlich sein. Immerhin war bereits ein junger Mensch gestorben, und andere waren ihr Leben lang gezeichnet. Und vielleicht wären noch mehr an der Reihe. Das war jedenfalls nicht aus- zuschließen.

Sie schaute wieder auf ihre verbrannte Hand und streckte die rosa Fingerstümpfe aus.

Ein Windstoß fegte durch die Baumkronen, und gleichzeitig begannen die Krähen sich unruhig zu bewegen, schlugen mit den Flügeln und gaben gellende Warnschreie von sich. Vielleicht ein Fuchs oder eine allzu aufdringliche Eule? Dann würden sich die Vögel schnell wieder beruhigen, sobald sich die Bedrohung entfernt hatte.

Aber die Warnrufe hielten an, nahmen an Stärke zu und schwollen zu einer Kakofonie aus Lauten und Bewegungen an.

Sie wusste, was das bedeutete. Jemand näherte sich dem Feriendorf. Jemand, den die Krähen nicht kannten.

Ein Fremder.

Sie drehte den Kopf zum Waldrand, aber das schwache Licht der Außenlampe ihres Hauses wurde von der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschluckt.

Ein paar Sekunden lang hoffte sie, dass sie sich geirrt hatte. Aber die warnenden Krähenschreie gingen weiter, ohne ein Anzeichen, dass sie nachlassen wollten.

Sie hatte kein Motorengeräusch gehört und auch kein Scharren von Schritten auf Kies, also kam der Fremde durch den Wald. Sie erhielt hier draußen fast niemals Besuch, und definitiv keinen, der so durch die Dunkelheit geschlichen kam.

Das konnte eigentlich nur eine Sache bedeuten: Sie war zu eifrig gewesen. Hatte zu tief gegraben. Sich irgendwie verraten.

Es rasselte in ihrer Brust, ein spitzer, brennender Schmerz, den sie leider wiedererkannte.

Was sollte sie jetzt tun?

Das Telefon befand sich drüben im Haus, und auch wenn sie es vor dem Besucher erreichte, wen sollte sie anrufen? Was sollte sie sagen?

Dass die Vergangenheit zurückkam. Wer sollte ihr das wohl glauben?

Und wenn sie jetzt zum Haus rannte, würde sie definitiv ihre Angst zeigen.

Denn sie hatte Angst, das ließ sich nicht leugnen. Angst um sich, aber vor allem um Laura. Das Rasseln in der Brust nahm zu, machte ihre Atmung flach.

Flucht war ausgeschlossen, also blieb ihr nichts anderes üb- rig, als ruhig sitzen zu bleiben und zu Ende zu rauchen. Da- rauf zu hoffen, dass die Güte trotz allem siegen würde. Vor allem an einem Platz wie diesem.

Sie wandte sich wieder dem See zu und nahm einen tiefen Zug. Dabei versuchte sie, ihre zitternde Hand zur Ruhe zu bringen.

Eine schwache Vibration im Steg ließ die altersschwache Vertäuung wieder ihren Klagesang aufnehmen. Das Geräusch mischte sich mit dem der Krähen und mit ihrem eigenen rasselnden Herzschlag. Sie unterdrückte den Reflex, sich umzudrehen. Stattdessen blieb sie zum Wasser gewandt sitzen.

Die Schritte hörten direkt hinter ihrem Rücken auf. Der Steg wippte immer noch leicht auf dem Wasser, bevor er zur Ruhe kam. Fast gleichzeitig wurden auch die Krähen still. Als wären sie neugierig und wollten hören, was gesagt wurde.

Sie schaute zu dem ersehnten Licht auf der anderen Seite.

Dann nahm sie einen letzten Zug und warf die Kippe ins Was- ser. Die Glut beschrieb einen Bogen, bevor sie von der Dun- kelheit verschluckt wurde. Ein Opfer an den Wassergeist, dachte sie. Plötzlich überkam sie eine seltsame Ruhe. Eine Art Traurigkeit, die ihr rasendes altes Herz dämpfte.

»Ich weiß, warum du da bist«, sagte sie, ohne sich umzu- drehen. »Du möchtest herausfinden, wie viel ich weiß.«

Es kam keine Antwort.
Langsam drehte sie den Kopf.
Der Besucher stand nur einen Meter entfernt, türmte sich über ihr auf wie ein Schatten. Die Kapuze war über den Kopf gezogen, das Gesicht lang im Finstern.

»Ich habe mir alles ausgerechnet«, sagte sie langsam. »Das Angebot für Gärdsnäset, das Bauprojekt, wer wohl dahinter- steckt.«

Der Besucher stand noch immer still und unbeweglich da.

Sie überlegte, ob sie wirklich weitersprechen sollte. Aber jetzt war es zu spät aufzuhören. Zu spät, um zu bereuen. Die Wahrheit musste ans Licht. Lauras wegen. Der anderen Kin- der wegen. Ihretwegen.

Sie füllte die Lungen mit Luft. Schluckte.

»Der Luciabrand ...«, sagte sie und merkte gleichzeitig, wie der Besucher leicht den Kopf hob. »Darum geht es bei all- dem.«

Sie wandte sich wieder dem See zu, ließ ihren Blick auf dem einsamen Licht dort drüben auf der anderen Seite ruhen.

»Ich weiß, was in jener Nacht wirklich passiert ist«, sagte sie. »Und warum es passiert ist ...«

Buch Mockup Anders de la Motte - Winterfeuernacht - Cover

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Die Bücher von Anders de la Motte

Anders de la Motte, geboren 1971, arbeitete mehrere Jahre als Polizist in Stockholm und in der Security-Branche, bevor er Schriftsteller wurde. 2010 erhielt er für sein Debüt Game den Preis der Schwedischen Akademie der Krimiautoren. Sein Roman UltiMatum wurde 2015 als bester schwedischer Kriminalroman ausgezeichnet. In Schweden sind seine Romane ...

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