Du weißt nie, wer neben dir sitzt ...
IICH PACKE MEINEN KOFFER ...
UND NEHME MIT: DICH!
Er tötet aus Rache. Er überlässt dem Zufall die Wahl seiner Opfer. Es könnte jeder sein ...
Kommissar Olav Thorn ahnt nichts Gutes, als er zu einem bizarren Fund an den Bremer Busbahnhof gerufen wird: Im Gepäckraum eines Reisebusses aus Dortmund ist ein Koffer zurückgeblieben - mit grauenvollem Inhalt, sowie einem Zettel mit der Botschaft: »Ich packe meinen Koffer, und auf die Reise geht ...?«
Noch bevor die Ermittlungen in Bremen richtig in Gang kommen, erreicht den Kommissar eine Nachricht aus Berlin: Auch am dortigen Busbahnhof ist ein Koffer mit Leichenteilen aufgetaucht. Wieder ist dieselbe Botschaft beigelegt.
Thorn und seine Berliner Kollegin Leonie Grün tragen fieberhaft Puzzlestück für Puzzlestück zusammen, doch der Killer ist ihnen immer einen Schritt voraus. Und er ist noch lange nicht am Ende seiner Reise angelangt.
Leseprobe
Das Fundstück
Er lauerte in der Schwärze unter der Durchfahrt, die in den Hinterhof führte. Dort erreichte ihn das Licht der Straßenlaternen nicht, und solange er sich nicht bewegte, blieb er nahezu unsichtbar. Ein perfekter Platz, um die Umgebung zu beobachten. Seit zehn Minuten ließ er den Blick von links nach rechts und wieder zurück gleiten auf der Suche nach Auffälligkeiten. Es ging auf zweiundzwanzig Uhr zu, und wie immer um diese Zeit trieben sich Typen herum, die wie er das Licht scheuten. Drogendealer und Kleinkriminelle, wie man sie in diesem Stadtteil häufig sah. Die interessierten ihn nicht, und er hoffte, umgekehrt wäre es genauso.
Was ihn dagegen wirklich interessierte, lag im zweiten Obergeschoss des Hauses gegenüber. Ein einziges Fenster der Wohnung ging nach vorn zur Straße hinaus, die anderen beiden nach hinten. Die blickdichte Gardine war vorgezogen, die kleine Lampe auf der Fensterbank brannte.
Ein gutes Zeichen!
Ein sicheres Zeichen!
Dennoch würde er nichts überstürzen und sich Zeit nehmen.
Grundsätzlich sollte man nichts übereilen, wenn man einen Menschen aus seinem Leben reißen wollte. Er hatte alles doppelt und dreifach überdacht, wochenlang, und heute war der Tag gekommen, um zu handeln. Einem Vulkan gleich, den nur noch wenige Zentimeter Erdkruste vom Ausbruch trennten, brodelte es tief in seinem Inneren, und er fühlte sich auf eine Art lebendig, die ihn an sein erstes Mal denken ließ.
Was für ein Gefühl!
Er brauchte es, um seinen Mut zu füttern. Obgleich sein Entschluss feststand, hatte er noch am Vormittag nicht gewusst, ob er es durchziehen konnte, ob er wirklich dazu imstande war.
Jetzt, wenige Minuten vor dem Point of no Return, musste er all seine Courage zusammennehmen, um die Sache nicht doch noch abzubrechen.
Seine Finger tasteten nach dem Gegenstand in seiner Jackentasche. Er wusste, dass er da war, musste es aber unbedingt noch einmal überprüfen. Ihn zu fühlen setzte einen Energieschub frei.
Ein Ruck ging durch seinen Körper, und er trat einen Schritt nach vorn. Seine Fußspitzen berührten beinahe die Linie, an der Licht und Dunkelheit sich trafen, jene Grenze, die zu übertreten bedeutete, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Ihm fiel der Spruch ein, dass es kein Zurück mehr gab, wenn man einmal getötet hatte, und genauso fühlte er sich in diesem Moment.
Er trat vor, blickte noch einmal zu den Seiten, vergewisserte sich, dass niemand ihn beobachtete, zog die Kapuze über den Kopf und überquerte rasch die Straße. Zehn Schritte, dann stand er vor der schäbigen Haustür, die sich durch nichts von all den anderen in diesem Viertel unterschied. Sie war nicht abgeschlossen, aber das war sie so gut wie nie.
Im Treppenhaus roch es abgestanden. Hässliche gelbe Fliesen und zerbeulte graue Briefkästen verstärkten das heruntergekommene Ambiente.
Lauschend verharrte er einen Moment. Wenn irgendwo eine Tür ging, könnte er jetzt noch abhauen. Befand er sich erst einmal auf der Treppe, ging das nicht mehr. Also senkte er das Haupt, machte sich kleiner, verbarg das Gesicht und stieg die Stufen hinauf.
Im zweiten Obergeschoss angekommen, trat er vor die Tür der Wohnung und lauschte abermals. Von drinnen drangen keine Geräusche heraus. Vorsichtig schob er den Schlüssel ins Schloss, den er erst vor zwei Wochen hatte nachmachen lassen. Er hakte ein wenig, funktionierte aber. Rasch huschte er in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
Sofort nahm er ihren Geruch wahr! Süß, blumig, ein wenig erdig. Wie er diesen Geruch liebte! Bevor er sich auf die Suche nach ihr machte, tastete er noch einmal nach dem Gegenstand in seiner Jackentasche. Er war wichtig, denn damit würde er sie aus ihrem Leben reißen.
Aus der spaltbreit offen stehenden Wohnzimmertür drang Licht in den Flur. Es stammte, wie er wusste, von der Lampe auf der Fensterbank, die er von draußen gesehen hatte. Ihre Signallampe. Ihr Leuchtturm in der Dunkelheit.
Auf dem Weg Richtung Schlafzimmer, wo er sie schlafend ver- mutete, erledigt von den Anstrengungen des Tages, nahm er plötzlich den anderen Geruch wahr.
Wonach roch es hier?
Tabak?
War das möglich?
Noch in dem Gedanken gefangen, fiel ihm die angelehnte Tür zum Schlafzimmer auf. Mit zwei Fingern öffnete er sie ganz. Im Zimmer war es dunkel, und er konnte gerade so ihre Umrisse im Bett erahnen. Die Decke hochgezogen bis zum Hals, den Kopf im Kissen vergraben, lag sie da.
Er schlich aufs Bett zu und fuhr mit der Hand in die Innentasche seiner Jacke, um den Gegenstand hervorzuholen.
Plötzlich flog die Decke beiseite, und was auch immer sich darunter verborgen gehalten hatte, fiel mit einem Schrei über ihn her wie eine wild gewordene Bestie.
Ehe er verstand, was geschah, ging er in dem schmalen Streifen zwischen Wand und Bett zu Boden und spürte das Gewicht eines Menschen auf dem Brustkorb. Atemluft wurde ihm aus der Lunge gepresst, neue fand keinen Weg hinein. Er schlug um sich, traf auch, erreichte aber nichts, krallte die Hände in das Haar der Gestalt, die über ihm war, riss mit der Kraft der Verzweiflung daran, bekam selbst einen furchtbaren Hieb ins Gesicht, der sei- ne Gegenwehr in Sekundenschnelle erlahmen ließ.
Über ihm grunzte und schnaufte es. Fremdartige Laute waren das, die sich in seiner benommenen Wahrnehmung zu einem grauenerregenden Crescendo steigerten und ihn an ein Tier glauben ließen.
Er bekam einen weiteren harten Schlag gegen den Kopf, und ihm wurde schwarz vor Augen. Zwar verlor er nicht das Bewusst- sein, doch sein Körper fühlte sich leblos an, und er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Eingezwängt zwischen Bett und Wand, war er dem Monster hilflos ausgeliefert. Seine Empfindungen zogen sich ins Innere seines Körpers zurück, suchten dort einen Schutzraum und weckten die kindlichen Erinnerungen an die Prügel, die er so oft von seinem Vater bezogen hatte.
Jemand packte ihn an den Beinen, zog ihn aus dem Schlafzimmer heraus in den Flur und von dort in das kleine, blau gekachelte Badezimmer. Dort wurde er achtlos auf dem flauschigen Vor- leger liegen gelassen, und für einen Moment glaubte er sich allein.
Steh auf! Wehr dich! Mach was! Du bist nicht hierhergekommen, um zu verlieren!
Plötzlich ein schmerzhafter Einstich im linken Unterarm, und etwas anderes übernahm die Oberhand in seinem Körper. Er spürte es durch seine Blutbahnen fließen, eine feurige Flüssigkeit, die seine Muskulatur in Pudding verwandelte und Gedanken und Empfindungen von seinem Ich trennte.
Ihm wurde die Jacke ausgezogen.
Dann die Winterstiefel.
In dem engen Bad wurde er bäuchlings auf den Rand der Badewanne gewuchtet. Rippen brachen, stachen ihm ins Zwerchfell. Mit einer Bewegung, die er nicht selbst steuerte, für die er sich nicht einmal bewusst entschied, bekam er den Duschvorhang zu fassen und riss ihn aus der Halterung. Plastikringe brachen, flogen im Raum umher und fielen klackernd zu Boden.
Er war schwer, und das Tier hatte Schwierigkeiten, ihn in die Wanne zu bekommen. Mit grober Gewalt stopfte es ihn geradezu hinein, dabei schlug er mit der Stirn gegen die Armatur, und als er schließlich bäuchlings in der Wanne lag, sah er sein Blut an der weißen Emaille hinablaufen.
Über ihm grunzte das Tier und stöhnte vor Anstrengung.
Er mühte sich ab, seine mäandernden Gedanken unter Kontrolle zu bringen, aber weder ließen sie sich kanalisieren noch zu einer klaren Handlungsanweisung zwingen. Irgendwo reagierte eine einzelne, nicht betäubte Synapse, schrie ein »Beweg dich!« ins vernebelte Schlachtfeld, doch ihre Stimme verhallte ungehört.
Jemand machte sich an seinen Händen zu schaffen, die eingequetscht zwischen seinem Körper und dem Wannenrand lagen. Sie wurden befreit und die Ärmel des Pullovers nach oben geschoben.
Dann zog die Person ihm die Socken aus und schob die Hosen auf die Schienbeine hoch.
Er bekam das alles mit, auch das Klappern irgendwelcher metallischer Gegenstände im Waschbecken sowie das leise Sirren eines Drahtes, und er fragte sich, was das sollte.
Schließlich beugte sich das Tier über ihn.
Nahm sein linkes Bein hoch und begann daran zu ruckeln. Zuerst vorsichtig und langsam, dann immer heftiger.
Warme Flüssigkeit lief an seinem Fuß hinab. Das war schön. Der Schmerz jedoch war infernalisch.