Weltweit auf der Suche nach Antworten

Der Journalist Thilo Mischke hat weit über hundert Länder dieser Welt bereist. Es ist dabei nicht der Reiz des Extremen, der ihn in die entlegensten Ecken treibt, sondern sein offener Blick für Menschen und ihre Geschichten, ja ein unersättlicher Hunger auf Lebenserfahrung. Egal, ob er in El Salvador dem Tod ins Auge blickt, Freundschaft in den Weiten Islands erfährt oder ukrainische Soldaten trifft: In seinen Schilderungen aus den grausamsten und unwirtlichsten Regionen der Welt wird das Fremde plastisch, und so erscheint unsere eigene Realität in neuem Licht. Und weil Thilo Mischke auf seinen Reisen alles in sich aufnimmt, ja aufsaugt, muss am Ende alles wieder raus, aufs Papier: Er lässt uns mitreisen und zeigt, wie aufregend, herausfordernd und vielfältig die Welt ist – aber nirgendwo schwarzweiß.

Alles muss raus

Bestseller
Gebundene Ausgabe 20,00 €
E-Book 17,99 €
Thilo Mischke

Thilo Mischke

Thilo Mischke, geb. 1981, ist ein deutscher Journalist, Autor und Fernsehmoderator. Er arbeitet u.a. für die Berliner Zeitung und die ZEIT und betreibt den reichweitenstarken Podcast »Alles muss raus«. Für die Reportage-Reihe »Uncovered« auf ProSieben taucht er in Schattenwelten ein und recherchiert an Brennpunkten rund um den Globus. 2020 gewann er den Bayerischen Fernsehpreis, 2021 wurde er zum Journalist des Jahres in der Kategorie Reportage gewählt. Sein Buch »Alles muss raus« (Droemer 2022) stand mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

"Jeder von uns hat einen Antrieb, etwas, was ihn in den Abgrund stürzen kann, aber auch auf Gipfel treibt. Für mich ist es das Neue. Ich unterwerfe mein Leben, mein Glück, meine Gesundheit der Suche nach Dingen, die ich noch nicht kenne, nicht verstehe."

Thilo Mischke: Alles muss raus

"Wir leben in einem System, das uns das Gefühl gibt, für das Sich-Erfüllen von Träumen bezahlt zu werden. Das kann nur unglücklich machen. Aber es ist ein Kreislauf, die Träume werden von Menschen produziert, damit andere wieder für diese Träume arbeiten."

Thilo Mischke: Alles muss raus

"Ich würde niemals behaupten, dass meine Erlebnisse mich zu einem besseren Menschen gemacht haben."

Thilo Mischke: Alles muss raus
Leseprobe

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»Mit dem Tod beginnen«

Ich sitze sehr unbequem, mein Bauch quält sich am Gurt vorbei, ein Arm hinter dem Kopf, die Knie viel zu nah am Körper, die Füße verdreht unter den Vordersitz geschoben. So, wie ich sitze, denke ich auch gerade nach. Ich habe unbequeme Gedanken.
In dieser Landschaft, hier mitten in El Salvador, hat der Tod sein Zuhause, denke ich und verwerfe diese Überlegung schnell, weil sie kitschig ist, nicht angebracht für das, was ich hier sehe. Der Tod wohnt nirgends, versteckt sich nicht, er ist immer gegenwärtig. Besonders hier.
Aus einem T-Shirt habe ich mir ein Kopfkissen gebaut, eine Tüte Nüsse auf dem Sitz neben mir, mit der Stirn lehne ich mich gegen die Autoscheibe. Mein Arm soll die unebene Straße ausgleichen, damit mein Kopf nicht gegen die Scheibe schlägt. Ich sitze in einem Minibus, ein Team um mich herum, und fahre an einen Ort, an dem ich sterben könnte. Es macht mir aus einem einfachen Grund keine Angst. Keine Angst mehr. Dass ich an Orte fahre, die mit Tod assoziiert werden, ist in den letzten sechs Jahren häufig geschehen. Und ich habe mich daran gewöhnt, ich nenne es jetzt Normalität.
Meine Eltern, mein Bruder, meine Freunde nennen es bescheuert. Ich könnte mich verrückt machen. Ich könnte mich an der nachvollziehbaren Furcht verrückt machen, wie ein Flugängstling könnte ich alle Variationen eines grausamen Endes durchdenken, sie geistig sezieren und in meinem Kopf immer wieder hin und her werfen. Aber ich tue es nicht. Wie ein Steward, der keine Angst vor dem Fliegen mehr hat, nicht haben kann, weil ja nichts passiert, arbeite ich mich gefährlich nah an mein eigenes Ende heran.
Ich habe die Fähigkeit entwickelt, auf langen Autofahrten mit einem Auge aus dem Fenster und mit dem anderen aufs Handy zu blicken. So bekomme ich beides mit, das Vertraute und das Fremde, und kann gleichzeitig über das Fremde, das Ferne und die Heimat nachdenken.
Die Straßen sind schlecht, mein Kopf schlägt gegen die Fensterscheibe, ich schiebe mein T-Shirt-Kissen weiter nach oben. Der Akku meines Telefons zeigt noch 20 Prozent an. Ich schreibe einem Freund eine Nachricht: »El Salvador ist ein furchtbares Loch.«

Ich sehe also einäugig hinaus, höre Musik und versuche mich wach zu halten. Denn ich bin erschöpft, dieses Land hat mir jede Kraft geraubt, wie kaum ein Land zuvor. Das Team schläft, der Fahrer hört leise spanische Schlager, der Journalist, der mich durch dieses Land begleitet, raucht Zigaretten und pustet den Rauch durch den Fensterschlitz. Wir sind eine stille, erschöpfte Reisegruppe.
El Salvador ist kein schöner Ort, wirklich nicht. Wird es niemals sein, dessen bin ich mir sicher. Dieses Land müsste nicht nur seine Geschichte aus Bürger- und Bandenkriegen vergessen, es müsste auch sehr viel düngen. Alles ist gelb: die Sträucher, der Boden, der so arm an Nährstoffen ist, dass er sich ohne Mühe vom Wind wegtragen lässt. Oft sehe ich Windhosen und Steppenhexen, das Unkraut, das wie in einem Westernfilm von links nach rechts geweht wird. Egal, wo ich mich aufhalte, eine dünne Staubschicht liegt auf meinem Gesicht, schminkt mich matt, nimmt mir den öligen Film, der allen hier, bei dieser Hitze, im Gesicht steht.
Ich schmecke den Sand, wenn ich mir über die Lippen lecke, und weil es so heiß ist jeden Tag, vom frühen Morgen, bis die Sonne untergeht, schwitze ich, schwitzen wir alle unerträglich. Der Staub klebt überall, wo die Haut feucht ist.
Die Häuser gelb, das Essen auch. Nichts hier hinterlässt einen Eindruck, der mich mehr fühlen lässt als Langeweile. Und ich schäme mich deswegen, denn ich müsste Angst empfinden. Wer sich in El Salvador langweilt, der ist reich. Oder nicht von hier.
Alles ist gedämpft in diesem Land, als hätte man eine Pferdedecke über dem Kopf und würde durch sie die Welt betrachten. Es gibt keine Geräusche, kein Vogelzwitschern, kein lautes Gerede der Menschen, selbst der Straßenverkehr ist still. Es ist schwer vorstellbar, aber ich habe es beobachten können. Die Menschen in El Salvador verhalten sich, als wären sie in einer Bibliothek. Alle laufen hier mit gebeugten Schultern über die Straßen, gesprochen wird nur im Flüsterton. Es könnte jemand zuhören, es könnte jemand petzen. Jedes öffentlich gesprochene Wort kommt einer Gefährdung gleich, könnte dazu führen, dass man erschossen wird, erhängt, aufgeschlitzt, vergewaltigt, zerschunden, aber so, dass es den Geschundenen noch lange quält, bevor er endlich stirbt.
Das Gelb passt nicht zur Gewalt, die hier täglich, ach, minütlich stattfindet. Diese Farben passen nicht zum hier erlebbaren, sichtbaren Grauen.

Reportagen zeigen Menschen gern fröhlich in ihrer globalen Armut. Früher dachte ich, Länder, in denen Gewalt herrscht, sind laut und bunt, versuchen das, was den Alltag ausmacht, mit Auffälligkeiten zu verstecken. Große Feste in El Salvador, die den Tod ehren, verstecken die Allgegenwärtigkeit des Todes, Paraden durch die Straßen der Hauptstadt, die wie eine Maske über die Wirklichkeit gelegt werden. Vielleicht sind die Bilder aus den Favelas in Brasilien schuld daran, Bilder von tanzenden Menschen, die Rum trinken und lachen. In ihren Augen ist das Irre der Welt, in der sie leben, zu erkennen, sie blicken anders, da ist keine Ruhe, keine echte Freude, nur Ablenkung. In vielen dieser Blicke liegt das endgültige Erlöschen eines Lebenstraums.
Aber El Salvador ist ein Land, das stirbt.
Mein Kopf schlägt trotzdem gegen die Scheibe. Die Straßen werden noch schlechter, wir fahren vorbei an Dörfern, nach deren Namen ich nicht frage. Häuser, windschief, und vergitterte Fenster, damit niemand einsteigt und das wenige stiehlt, das sich Menschen hier leisten können. Meist sind das eine Schrotflinte, ein Röhrenfernseher und eine mobile Klimaanlage, für die Kinder im Hof ein Fahrrad. Wie Maismehl liegt der Staub auf den grünen Kakteen, die am Rand der Straße wie versteinerte Anhalter stehen.
Seit 48 Stunden bin ich wach. In diesen 48 Stunden habe ich mich mit den Anführern der rivalisierenden Gangs getroffen, wir saßen im Hinterraum einer Tankstelle zusammen und diskutierten, warum der einzige Ausweg aus der Armut diese unberechenbare Gewalt ist. Wir saßen dort in der ständigen Angst, jemand könnte eine Handgranate in den Raum werfen. Wir waren in Gefängnissen, in denen die Insassen nichts mehr hatten als die Tattoos in ihren Gesichtern, vollkommen entmenschlicht, wie Kriegsgefangene im eigenen Land, blickten sie zu mir und in die Kameras, die sie filmten. Da war kein Gefühl, keine Zartheit mehr, da war die Erschöpfung von Männern, die noch am Leben sind, die eigentlich tot sein sollten. Die Gewalt, die hier herrscht, vermengt sich mit meiner Müdigkeit zu einem Rausch. Das Ungewaschene, das Durchgemachte, es unterscheidet sich nicht vom Ungewaschenen und Durchgemachten meiner Jugend in Berlin. Weil ich dieses Leben hier nur beobachte, nicht Teil davon bin, ist es ein Rausch. Die Erschöpfung, die sich aus dieser gefährlichen Neugierde ergibt, erinnert mich an die Zeit, als das Wochenende am Donnerstag nach meinem Abitur begann und mit meinem dreißigsten Geburtstag endete.
»Wir müssen jetzt schneller fahren«, sagt der Fahrer. »Und nehmt die Köpfe vom Fenster weg.« Sein Ton lässt nichts Unnormales vermuten. Er sagt es, weil die Menschen in dieser Gegend nördlich von San Salvador, der Hauptstadt, auf vorbeifahrende Wagen schießen. Hier kann man noch stehlen, Autos haben keine Gitterstäbe und mit uns Passagieren einen verletzlichen Kern, der sich schnell töten lässt. Wir rasen. Wenn wir nicht erschossen werden, denke ich, stürzen wir die Böschung hinab. Und vermutlich werden wir dann erschossen. Furchtbare Gedanken. Ich denke solche Sätze wirklich.
Die Landschaft verändert sich, es geht in die Hügel, die San Salvador umgeben. Wir fahren immer tiefer hinein in dieses Land, das die meisten nicht mal aus den jährlichen Gewaltstatistiken kennen, kalten Zahlen, die uns ein Gefühl von Sicherheit geben. Statistiken, die ich wie eine Reisempfehlung lese.

Wir wissen, bei uns zu Hause sterben nicht Tausende Menschen jedes Jahr durch Waffen, durch Ganggewalt. Bei uns sterben nicht Tausende junge Frauen und Männer durch Fäuste, Penisse, Messer, zerdrückt durch eine Wut, die nur Verzweiflung erzeugen kann.
Ich kurble das Fenster ein wenig herunter, will rauchen, atme durch den Schlitz. Die Luft ist schon kühler, weil wir weiter oben sind.
»Wir sind bald da«, sagt der Fahrer. Er biegt ab, die Straße wird zum Feldweg, zum schmalen Grat, durch die verstaubten Scheiben sehe ich ein Tal. Als wir aussteigen, ich den Rücken durchdrücke und unbeteiligt »Puh« sage, rieche ich zum ersten Mal in meinem Leben den Tod.

Buch Mockup Thilo Mischke: Alles muss raus

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